Um Mitternacht läutet es an der Tür. Draußen steht ein vielleicht 15jähriger Bursche, den Blick auf den Boden geheftet, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Pascal ist von zu Hause ausgerissen. Es geht nichts mehr. Seit 20 Jahren bietet die Krisenstelle Waki in Linz Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren täglich und rund um die Uhr Zuflucht. Das Waki in der Schubertstraße ist ein offenes Haus. Meist herrscht reges Treiben. „Ein Kennenlernen und Abschiednehmen, ein Kommen und Gehen“, erzählt Sozialpädagogin Christine Khek. „Von herzerfrischendem Gelächter und Freudenschreien bis hin zu Tränen, Wut oder Suiziddrohungen.“ Innerhalb von vier Monaten wird versucht mit dem Jugendlichen einen Ausweg zu finden. Das kann ein neuer Anfang mit den Eltern, das kann ein Platz in einer Wohngruppe sein. Pascal ist zur Ruhe gekommen, die Achterbahn der Emotionen gestoppt. Der 15jährige und seine Eltern versuchen unter Begleitung eine neue Annäherung. „Immer wieder staunen wir darüber, dass die Jugendlichen trotz widrigster Lebensumstände ein großes Potential für wundersame Entwicklungen mitbringen“, sagt Christine Khek und schaut in den Computer nach freien Lehrstellen.
30.000 Kinder und Jugendliche sind auf Unterstützung der Jugendhilfe angewiesen. 78.000 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren sind weder beschäftigt noch in Ausbildung. Um die 80.000 Minderjährige verbringen ihre Tage unter Mindestsicherungsbedingungen. Betrachtet man die gesamte Gesellschaft, dann zeigt sich bei steigender sozialer Ungleichheit eine Verschlechterung der Lebensbedingungen von Kindern. Die Lebenserwartung sinkt, Kindersterblichkeit steigt, Teenager Birth Rate nimmt zu und die Aufstiegschancen für Kinder sinken. Länder mit stärkerem sozialen Ausgleich schneiden besser ab.
Welche subjektiven Bewältigungsstrategien Kinder in solchen Situationen ergreifen,
wurde in mehreren Studien untersucht. Die vier möglichen Strategien waren: 1. Mit sich selbst ausmachen, 2. Soziale Unterstützung suchen, 3.
Anstatt-Handlungen; das beschreibt die Umbewertung von Ereignissen, beispielsweise in der Form, dass ein Kind sich einzureden versucht, ein sehnlichst gewünschtes Spielzeug sei gar nicht schön, oder
es wolle mit bestimmten Kindern, von denen es ausgeschlossen wurde, ohnehin nichts zu tun haben, und 4. An die Umwelt weitergeben; das umfasst sowohl aggressive Verhaltensweisen als auch
Auseinandersetzung mit den Eltern. Die Kategorie „mit sich selbst ausmachen“ wurde am häufigsten genannt. Sie steht für ein Verhalten, das die Kinder mit „weggehen“, „nachdenken““, an etwas anderes
denken“ beschreiben.
In äußerst beengten Verhältnissen und überbelegten Wohnungen ist es für Kinder schwieriger, Aufgaben zu fokussieren. Aber es muss gehen. Die älteste Tochter von Frau Kellner, Petra, passt auch an
vier Nachmittagen auf die kleineren Geschwister auf. Da ist die Mutter bei der Arbeit. Und wenn die Mutter nicht mehr kann, springt sie ein. „Im letzten Winter haben sie uns den Strom abgedreht“,
erinnert sich Bettina Kellner. Es war bitter kalt in der Wohnung. „Die Kinder haben geweint.“ Und wochenlang nicht gelernt. „Petra, jetzt 14, fühlt alles akut mit, sieht, dass wir mit den
täglichen Aufgaben allein dastehen. Nahe Verwandte in der Nähe gibt es nicht und meine Mutter ist selbst bettlägerig.“ Das Mädchen ist mit der Schule und den Herausforderungen der Pubertät
eigentlich überfordert, knickt immer wieder ein, wird krank und von lähmender Müdigkeit befallen. Viele Jugendliche reagieren mit depressiven Verstimmungen auf belastende und überfordernde
Situationen.
"Ich hab keinen Lehrabschluss, mein Leben ist sowieso gelaufen", sagt Pascal. Doch: Niemand darf so einfach verloren gehen. Das Projekt «c’mon 14» oder «move on» in Wien geht in die Schulen und bietet Hilfe an, wenn es nicht mehr geht. Das wird gut angenommen, wie man hört. In Oberösterreich fängt die Diakonie junge Leute in ihrer Notschlafstelle Waki auf, investiert in frühe Hilfen und begleitet in 237 Schulen Kinder und Jugendliche im Alltag; sie hilft beim Lernen, hat ein offenes Ohr bei Problemen und gibt Halt, wo sonst keiner wäre. Jobcoaching und Schulassistenz sind gute Beispiele für niederschwellige Angebote, also Unterstützung ohne Hürden, lebensnah, flexibel und unbürokratisch. Beispiel heißt aber auch, dass es das nur bruchstückhaft gibt. Es bräuchte einen flächendeckenden Ausbau von schulunterstützender Sozialarbeit wie auch mehr Schnittstellen zwischen Schule und offener Jugendarbeit. Wenn sich die Schule hin zum Stadtteil und Grätzel öffnet, kann sie Lernraum werden für Aktivitäten in Gesundheit oder Erwachsenenbildung, Spracherwerb, Kultur- oder Sportveranstaltungen. Pascal hat mittlerweile eine Lehrstelle gefunden. Das Waki hat dabei geholfen.
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Genug gejammert! - Warum wir gerade jetzt ein starkes, soziales Netz brauchen I ISBN: 978-3-9504509-0-3